New York gegen Ende des 19. Jahrhunderts—eine aufstrebende Megametropole voller Tatendrang. Aber bereits ein Ort gelebter Vielfalt trotz mangelnder Gleichberechtigung? Dieses Bild zeichnet gekonnt die auf Netflix ausgestrahlte Serie The Alienist (2018-2020) von TNT. Im Mittelpunkt stehen zwar drei weiße Figuren der Oberschicht Manhattans, aber ihre Persönlichkeiten könnten verschiedener nicht sein. Der aus Ungarn stammende Psychotherapeut Dr. Laszlo Kreiszler (Daniel Brühl) hadert mit weitverbreiteter Skepsis gegenüber seinem aufkommenden Berufsfeld im Schatten von Sigmund Freud. Sara Howard (Dakota Fanning), die unerschrockene, frühfeministisch anmutende Sekretärin des NYPD-Kommissars Theodore Roosevelt wird als berufstätige Frau täglich verunglimpft. Währenddessen verlangt die illustre Verwandtschaft des raffinierten New York Times-Illustrators John Moore (Luke Evans) von ihm einen gebührenden skandalfreien Lebensstil. In bisher zwei Staffeln verweben blutige Gräueltaten nicht nur die Berufswege dieser Figuren, sondern auch deren persönliche Schicksale, während sie sich sozialen Zwängen stellen. Obgleich sie berufen werden, einen kannibalistischen Schänder jugendlicher Prostituierter aufzuspüren oder eine rachesüchtige Kindesentführerin, die Ermittlungen von Dr. Kreiszler, Miss Howard und John Moore führen sie stets an die moralischen Abgründe ihrer Gesellschaft, die nur auf den ersten Blick vorrangig in den migrantischen Armenvierteln walten. Tatsächlich trägt die Serie nicht zufällig einen mehrdeutigen Titel, der sowohl auf die veraltete Berufsbezeichnung des Psychotherapeuten sowie dessen Migrationsstatus verweisen könnte. Mithilfe eines täuschend echten Nachbaus des New Yorks der 1890er Jahre mitsamt seiner ikonischen Wahrzeichen und bestehenden Traditionsmarken vermag es die historische Kriminalserie daher, Kritik an der Aufschwungsgeschichte der Weltstadt zu üben, hinter deren Fassade der Frust über Ungleichheit tiefe Wurzeln schlägt und unaufhaltbar brodelt.
Referentin:
Atalie Gerhard (sie/ihr) ist Doktorandin am Lehrstuhl für Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Dort forschte sie für ihre Dissertation im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs „Diversität: Vermittlungsprozesse in transkulturellen Räumen“. Ihre bisherigen Seminare und Veröffentlichungen konzentrieren sich auf afroamerikanische, indigene, feministische und postkoloniale Literatur und visuelle Kunst aus Nordamerika. Sie absolvierte ihr Masterstudium in Nordamerikanischer Kultur- und Literaturwissenschaft sowie ihr Bachelorstudium in Anglistik und Amerikanistik und Frankoromanistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.